Die Pariser Radierungen von Barbara Grosse

 

Das Werk der Bochumer Graphikerin Barbara Grosse zeichnet sich seit Jahren durch eine außergewöhnliche Experimentierfreude und durch die Entwicklung innovativer technischer Verfahren aus. Automatische, kaum steuerbare chemische und mechanische Einwirkungen halten sich bei der Herstellung ihrer oftmals großformatigen Radierungen die Waage mit bewussten künstlerischen Entscheidungen und Eingriffen: Ein Schaffensprinzip, das sich als „gesteuerter Zufall“ definieren ließe. Radierungen und Zeichnungen entstehen in Serien, in denen Barbara Grosse immer wieder neu die Rolle des schaffenden Künstlers befragt, der sich in ihrem Werk mehr und mehr als Zuhörer und Archivar einer ihn übersteigenden Naturkraft zeigt. Die traditionelle Rolle des kontrollierenden und komponierenden Künstlers wird durch graphische Experimente negiert, in denen Barbara Grosse Metallplatten Naturprozessen oder ungesteuerter Abnutzung durch das Darüberlaufen von Personen über einen längeren Zeitraum aussetzt und so die entstandenen Veränderungen durch Korrosion und mechanische Verletzung der Oberfläche im Abdruck dokumentiert.

 

Die im Zeitraum 1999 bis 2001 entstandenen Radierungen belegen verschiedene Arbeitsprozesse, in denen Barbara Grosse auf großformatigen Papierbahnen vom Zufall generierte „Kompositionen“ in die Technik der Radierung übersetzt.

„Vice- Versa“, September 2000, zeigt den Abdruck einer im Garten der Witterung ausgesetzten Stahlblechplatte, deren beide Seiten aneinandergesetzt abgedruckt worden sind. Organisch anmutende Spuren von sattem Schwarz in einer aquatintahaft dichten Fläche, deren vom Zufall hervorgebrachte Form nur in der Zusammenstellung und in der Entscheidung oben/unten oder vertikal/horizontal sowie im Prozess der Ätzung und im Auftrag der Druckerschwärze von der Künstlerin gesteuert werden konnte. Die Bildserie „Linie/Fläche“ konfrontiert von der Natur hervorgebrachte visuelle Phänomene- meist an informelle Kompositionen erinnernde, sensibel strukturierte Flächen in Schwarz- und Grauabstufungen- mit zeichenhaften Eintragungen auf hellem Bildgrund.  Horizontal dazugesetzt, oder, wie im Beispiel ‚Linie/Fläche VI’ vom August 2000, in vertikaler Ordnung darüber – und darunter platziert, bringen diese spontan gezeichneten Elemente das Thema der menschlichen Figur ins Spiel. Bewegungsspuren, die auf langsame, harmonisch gestaltete Abläufe zurückgehen, fügen sich als Komplement der neutralen Naturspur hinzu. Aus der Beobachtung chinesischer Sportarten hat Barbara Grosse Andeutungen figurativer Form gezogen und mit Kaltnadel und Zucker- Ausspreng –Verfahren auf die Druckplatte übertragen. Weniger der Kontrast der menschengemachten mit der naturgenerierten Form denn das nach harmonischem Ausgleich strebende Sich- Herantasten an eine dynamische Balance zwischen beiden ist das Ziel dieser Werkgruppe.

 

Während zweier Arbeitsaufenthalte in Paris in den Jahren 1996 und 2001 erweiterte Barbara Grosse ihr künstlerisches Repertoire um eine historische und an den Ort Paris gebundene Dimension. Im Musée Cluny stieß sie auf die wieder aufgefundenen Steinköpfe der Königsgalerie von Notre Dame, die in der Revolution abgeschlagen worden waren. Die ikonographische Bedeutung dieser Köpfe ist, wie Christian Beutler feststellt, nicht endgültig geklärt: ‚Erst seit Mitte des 19. Jh., als sich in Frankreich die Trennung von Thron und Altar vorbereitete, will man in den Dargestellten alttestamentliche Könige als Vorläufer Christi sehen, da weltliche Könige in einem Sakralbau nur als Stifterbild vorstellbar wären. Doch bereits 1284, rund 60 Jahre nach der Aufstellung werden 2 Figuren als Pippin und Karl d. Gr. benannt, und die gesamte Geschichtsschreibung und Guidenliteratur des 17. und 18. Jh. sah in den Idealstatuen eine Genealogie französischer Herrscher. Das Motiv, das in Paris zum ersten Mal auftritt, würde danach als Sinnbild für ein Königtum in der Nachfolge Christi zu deuten sein. Auf einem Höhepunkt seiner Macht, unter Philippe II Auguste, hätte das Königtum in Frankreich für dieses mittelalterlich-christliche Herrscherbewusstsein einen weithin sichtbaren Ausdruck geschaffen.’

 

Die Begegnung mit den 21 erhaltenen Fragmenten der Königsgalerie, die noch Reste der ursprünglichen polychromen Fassung aufwiesen, inspirierten die Künstlerin zu einer eigenen Graphikfolge. In Fotografien, Zeichnungen und Radierungen näherte sie sich den historischen Köpfen, bearbeitete kunsthistorische Dokumentationen und rekonstruierte Aussehen und Maße der zum Teil zerstörten Antlitze. In einem weiteren Schritt übersetzte Barbara Grosse die frontalen Ansichten der Königsporträts in originalgroßen Umrissformen auf ausgeschnittene Zinkplatten, die sie mit Schlamm aus der Seine bedeckte oder dem Dauerregen in Paris aussetzte. Später druckte sie die korrodierten Platten ohne weitere Retuschen auf Leinwand. Eine Galerie von 21 idealen Frontansichten und 7 anonymen rechteckigen Drucken (die verschollenen Köpfe) entstand als Archiv und als Dokument einer vom genius loci inspirierten Reiseerfahrung. Die Themen der menschlichen Figur und der immer auch vom Menschen mitbestimmten Naturprozesse werden übereinander geblendet und in eins gesetzt. Geschichte als stummer und anonymer Prozess erscheint individualisiert, lesbar und erfahrbar in den reproduzierten Porträt-Silhouetten, die einer Ahnengalerie gleich präsentiert werden sollten.

 

Weniger der Kontrast der menschengemachten mit der naturgenerierten Form erscheint als künstlerische Herausforderung, der sich Barbara Grosse in ihrer neuen Radierfolge stellt, sondern das nach harmonischem Ausgleich strebende Sich-Herantasten an eine dynamische Balance zwischen beiden ist Ziel dieser in Paris konzipierten Werkgruppe.

 

Sepp Hiekisch-Picard

2003