Gesteuerter Zufall.
Die Graphikerin Barbara Grosse
Sepp Hiekisch-Picard
Ein Besuch in Barbara Grosses Atelier im ländlich geprägten Stadtteil Stiepel, im Süden der Ruhrgebietsstadt Bochum gelegen, lässt ganz unmittelbar einige charakteristische Bezüge und Prägungen dieser seit Jahrzehnten auf dem Feld der Graphik tätigen Künstlerin hervortreten. Im Untergeschoss des Wohnhauses mit Blick auf das Ruhrtal gelegen, ist ihr Atelier heute eher Archiv und Bildspeicher einer langjährigen Auseinandersetzung vorrangig mit dem Medium der Radierung, denn Produktionsort dieser traditionsreichen schwarzen Kunst, die gemeinsam mit der Erfindung des Buchdrucks die Kommunikationsformen und das Weltbild der frühen Neuzeit revolutioniert hatte. Zeichenschränke und vor allem ein ausgeklügeltes Hängesystem für die großformatigen Abzüge, Arbeitsplatten auf Böcken, darauf Stapel von Papieren und Drucken, dienen der Aufbewahrung und der Präsentation ihrer Arbeiten, deren Anfertigung und Druck schon aus Formatgründen an anderen Orten geschehen. Das Atelier öffnet sich direkt auf einen liebevoll angelegten Garten, der bei der Entstehung mancher Arbeit eine besondere Rolle gespielt hat. Ein enger Bezug zur Natur, zur Landschaft, prägt Barbara Grosses Kunstauffassung von Beginn an. Auf den ersten Blick wird aber auch deutlich, wie sehr die riesigen auf Büttenpapier gedruckten Radierungen die Möglichkeiten dieses Druckverfahrens austesten, an die Grenzen dieses Mediums gehen, um immer großzügigere und freiere Formen zu entwickeln. In ihren Ausstellungen tendiert die Künstlerin zunehmend dazu, die großen Drucke frei schwebend im Raum aufzuhängen, sie befreit sie ebenso vom traditionellen Wandbezug wie auch vom normativen Vervielfältigungscharakter der druckgraphischen Technik: Viele ihrer Drucke sind Unikate, manch einer ließe sich auch kein zweites Mal identisch drucken.
Begonnen hat die 1938 in Stuttgart geborene Graphikerin ihren künstlerischen Weg mit einem Studium an der Staatlichen Kunstakademie in Stuttgart und an der Karlsruher Akademie der Bildenden Künste, Außenstelle Freiburg. Zeichnung und Malerei, Landschafts- und Aktstudien, prägen die Studienjahre von 1958 bis 1960 bei dem Kunstpädagogen Gerhard Gollwitzer und dem Maler Hans Meyboden. Immer wenn es die Familie und die Erziehung der 1960,1961 und 1965 zur Welt gekommenen Kinder zulässt, zeichnet Barbara Grosse in den folgenden Jahren, oft abends, und in den Ferien. Die Übersiedlung nach Bochum im Jahr 1966, wo ihr Mann eine Stelle als Professor der Germanistik an der neugegründeten Ruhr Universität antritt, eröffnet bald neue Möglichkeiten. Das „Musische Zentrum“ als kreativer Ort neben der wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität geplant, bündelt vielfältige künstlerische Aktivitäten, von Chor- und Orchester, von Studentenkabarett und Theater über Puppenspiel bis zu bildender Kunst. Den Bereich der bildenden Kunst leitet von 1968 an der Bochumer Maler Hans-Jürgen Schlieker, dessen Fähigkeit, als Lehrer Begeisterung zu vermitteln und Talente zu wecken, viele seiner Schüler noch heute bewundern. Barbara Grosse tritt dem Musischen Zentrum gleich nach seiner Gründung bei: Aktzeichnen, eine intensive Auseinandersetzung mit den graphischen Techniken, die Nutzung der großzügig ausgestatteten Werkstätten, Exkursionen, Studien in der Natur und die vielen Gespräche mit dem Maler und Graphiker Schlieker befördern ihren künstlerischen Weg. Von 1973 an beteiligt sie sich regelmäßig an den Ausstellungen des Bochumer Künstlerbundes und des Westdeutschen Künstlerbundes und ist oft vertreten auf der Großen Düsseldorfer Kunstausstellung.
Der Mensch steht im Vordergrund in den Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre, die menschliche Figur, in Bewegung versetzt, mit sparsamen Strichen, oft skizzenhaft, fragmentarisch, aber in all ihrer Vitalität eingefangen. Aber auch der erstarrte und leblose Körper, gezeichnet oder direkt in die Radierplatte geritzt im Studiensaal der Anatomie an der Medizinfakultät der Bochumer Universität, ist ein immer wiederkehrendes Motiv in dieser Werkperiode. Unzählige Zeichnungen und Radierungen mit Akten und Körperstudien entstehen, manche aus wenigen Strichen gebaut, andere aus wirren Linienbündeln zusammengefügt. Körper, deren Grenzen sich verwischen, von Auflösung, Auslöschung und Zerfall bedroht und doch noch als Körper lesbar, in einer fragilen Balance sich gegen diese Auflösung behauptend. Leben und Tod bilden die Pole, nicht selten auf dem gleichen Blatt vereint: Die Tradition der spätmittelalterlichen Totentanzdarstellungen, die Nichtigkeit allen Lebens im Angesicht des Todes hinterfragend, scheint in diesen Arbeiten wieder auf. Ein weiblicher Rückenakt mit wenigen Strichen und Schraffuren auf das Bildfeld gesetzt, kontrastiert mit dem dunklen, schemenhaft und wie in Auflösung befindlichen Körper eines Leichnams aus der Anatomie. Die kaum noch zu identifizierende männliche Gestalt in der Radierung „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ spürt, mit allen Möglichkeiten der Aquatinta-Technik experimentierend, den existenziellen Fragen von Tod und Leben nach. Barbara Grosse schafft graphische Blätter von einer ungewöhnlich ausdrucksstarken Vehemenz: „…das Beschädigte, Gebrochene, Fragmentierte, Zerstörte erhält in den überaus sensibel-fragenden Arbeiten von Barbara Grosse zugleich auch den Ausdruckscharakter von Würde und Größe. Die Chiffren für Leiden und Erlittenes hinterlassen Kraftströme und -felder, die in den Raum und über ihn hinaus strahlen – Signum der Hoffnung, das über die tote körperliche Materialität hinausgeht“, so beschreibt die Kunstkritikerin Eva Maria Schöning die verstörende Wirkung dieser modernen Totentänze anlässlich einer Ausstellung im Jahr 1987.
Die menschliche Figur, ihre Erscheinungsform in Bewegungs- und Zeitverläufen, bildet auch in den nachfolgenden Werkgruppen, die mit neuen und ungewöhnlichen Techniken experimentieren, eine wichtige Konstante: immer wieder kehrt die Künstlerin dabei zum Aktzeichnen zurück. Wie um sich eines Halts zu versichern inmitten ihrer experimentellen Aufgabe fester Raum- und Zeitkoordinaten, zeichnet sie akribisch nach Modell, um dann die gefundenen Formen und Linien radikal zu abstrahieren und bis hin zu schriftartigen figurativen Kürzeln zu komprimieren. Seltsam tänzerische Lineamente, die nur bruchstückhaft Körperlichkeit und Bewegung vermitteln, Kalligraphien ähnlich, werden in Kontrast gesetzt zu flächigen, sehr materiehaften Farbfeldern. Bei der Herstellung dieser farbigen oder grauschwarzen Oberflächen beschränkt Barbara Grosse ihre Rolle als aktive Gestalterin auf ein Minimum: Es sind graphische Experimente, in denen sie Metallplatten Naturprozessen oder auch ungesteuerter Abnutzung durch das Darüberlaufen von Personen aussetzt. Sie stellt ihre Druckplatten im Garten in den Regen oder legt sie vor einer Ausstellungshalle auf die Erde und lässt so Prozesse wie Korrosion oder mechanische Verletzung der Plattenoberfläche zu. Die Natur, natürliche Prozesse, übernehmen die „graphische“ Bearbeitung, welche die Künstlerin kaum beeinflussen kann und denen sie nur zu einem von ihr bestimmten Zeitpunkt ein Ende setzen kann. Im Abdruck entstehen satte, an informelle Bilder erinnernde Flächen, die dem Zufall und der Prozesshaftigkeit der Natur geschuldet sind. Ihre Rolle als schaffende Künstlerin wandelt Barbara Grosse dabei vom alles kontrollierenden und koordinierenden Schöpfer um zum teilhabenden und nur selten korrektiv eingreifenden „Zuhörer“ und Archivar einer alles übersteigenden Naturkraft. Es entstehen in den Jahren des Jahrtausendwechsels sehr meditativ gestimmte und im Format deutlich vergrößerte Kompositionen überraschenden Texturen und Oberflächenwirkungen. Aus der Beobachtung menschlicher Bewegung bei der Ausübung fernöstlicher Sportarten während mehrerer Aufenthalte in China und Japan, extrahiert die Künstlerin lineare Andeutungen von Körpern und Bewegung, die sie mit Kaltnadel und Zucker-Ausspreng-Verfahren in Beziehung zu diesen von der Natur geschaffenen, sehr dichten Oberflächen setzt. Es ist weniger der Kontrast zwischen der vom Menschen gemachten mit der von der Natur generierten Form, der Barbara Grosse dabei interessiert, sondern das nach einem harmonischen Ausgleich strebende Sich-Herantasten an eine dynamische Balance dieser beiden Pole. Der Kunsthistoriker Kai-Uwe Hemken feiert diese Radierungen als „künstlerische Archive der Natur“: „Barbara Grosse betreibt eine Archäologie der verborgenen Spuren, die uns das Gefühl des Erhabenen wiedergeben. Gemeint ist eine Regung des Staunens über Phänomene, die uns sinnlich erfreuen und nachdenklich stimmen. Es ist dieses Erstaunen, das wir in unserer aufgeklärten, durchrationalisierten Zeit verlernt haben und das mit der Sinnenfreude im Anblick der Graphiken wieder spürbar wird.“
Den eigenen Körper macht die Künstlerin in der eigenwilligen Zeichnungsserie „Im Gehen“ zum Thema: Jede unwillkürliche Bewegung protokolliert sie mit Stift und kleinen Papierblättern in ihrer Tasche, ohne dabei Kontrolle oder Korrekturen zuzulassen. Naturkräfte, Zufall und Psychomotorik protokollieren wie ein Seismograph Bewegungsabläufe, die sich unserem Alltagssehen und –erleben entziehen. Die Zurücknahme der künstlerischen Kontrolle in dieser Versuchsanordnung zu automatischer Bildproduktion ist radikal, denn nur im Verwerfen und Aussondern nicht befriedigender zeichnerischer Ergebnisse erhält sie noch die Möglichkeit ästhetischer Einflussnahme. Barbara Grosse beschreibt dieses Experiment, den Zufall als produktiven Faktor in ihre Kunst einzubringen und sich selbst weitgehend zurückzunehmen, als ein glückliches Erleben: „Beim Zeichnen „im Gehen“ liegt das Papier handtellergroß in der Tasche: der Strich spürt der Bewegung nach, Linien verdichten sich, brechen ab und beginnen neu. Es entstehen Protokolle von Wanderungen durch Stadt und Landschaft. Die Konzentration richtet sich auf den Weg und die Bewegung, die Stifte in der Hand laufen unbeobachtet über das Papier. Das Ergebnis ist eine Zeichnung, die nicht im Kopf entsteht, sie ist unmittelbar und das reine Vergnügen.“
Körpermotorik, das Übersetzen der eigenen Bewegung in graphische Zeichen und Spuren, bestimmt mehr und mehr das graphische Werk, das in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends entsteht. Barbara Grosse arbeitet zunehmend mit großen Formaten, in denen sie die Möglichkeiten der Druckgraphik bis an die Grenzen der technischen Machbarkeit austestet. Das dieses Medium eigentlich bestimmende Charakteristikum der Vervielfältigung, das Drucken von Auflagen identischer Abzüge, interessiert die Künstlerin dabei immer weniger. Das indirekte Arbeiten, das Ritzen in eine Platte, die dann abgedruckt wird, dient ihr zum Erreichen bestimmter ästhetischer Qualitäten, die meisten ihrer Blätter bleiben Unikate oder existieren nur in zwei oder drei Abzügen. Vermehrt arbeitet sie mit großen Kunststoffplatten aus Polystyrol, einem sehr festen Material, das der Bearbeitung mit dem Radierwerkzeug Widerstand entgegensetzt. Beim Ritzen mit Stahlnadeln oder Nägeln entstehen spröde, scharfkantige Risse, mit reliefartigen Rändern, Graten, in denen sich Druckerschwärze ansammelt und beim Abdruck eine unscharfe, fast körnig wie ein Kreidestrich wirkende Linie entstehen lässt. Dieses als Kaltnadel bezeichnete Verfahren bewirkt schon bei der traditionellen Verwendung von Radiernadeln und handlichen Metallplatten eine der klaren Ästhetik etwa des Kupferstichs entgegengesetzte Ausdrucksqualität: Expressivität, subjektive Handschrift, Spontaneität in der Ausführung und unvermeidbare Zufälligkeiten der entstehenden Linien charakterisieren die Kaltnadeltechnik. Diese Qualitäten treten in den Großformaten, die Barbara Grosse hervorbringt, potenziert hervor. Mit selbstgebauten Radierwerkzeugen, die aus gebündelten, besenartigen Nagelstiften bestehen, bearbeitet sie die auf dem Boden liegenden und fixierten Polystyrolplatten. Dabei ist die Künstlerin mit vollem Körpereinsatz gefordert, sie überträgt die eigene Bewegung, mit der sie die Platten fast tänzerisch umschreitet mit den Radiernadeln direkt in das widerständige Material. Auf den Platten sind keine Vorzeichnungen eingetragen. In kleinen Skizzen hält Barbara Grosse ihre Vorüberlegungen zur Gesamtkomposition zwar fest, aber der Arbeitsprozess selbst vollzieht sich als Improvisation, in die natürlich ihre langjährigen Erfahrungen eingegangen sind. „Die Oberfläche des Kunststoffs wird mit der Radiernadel bearbeitet, aufgerissen, mit Zeichnung versehen. Gegen den Widerstand des Materials gräbt Barbara Grosse voller Kraft Linien, ganze Flüsse von Linien ein. Eine Kaltnadelradierung in diesem ungewöhnlichen Format zu schaffen, erfordert ganzen Körpereinsatz. Die Platte widersetzt sich, und genau dieser Widerstand ist von der Künstlerin gewünscht. (…) Der Widerstand des Strichs, die Härte des Materials bei der Radierung ist nötig als Gegenpart, um größtmögliche Intensität zu erzeugen, Intensität und Konzentration. Ausgreifende, weitreichende Bewegung der Arme, des Oberkörpers, ja des ganzen Körpers manifestieren sich auf dem Papier“, beschreibt Christiane Grathwohl-Scheffel den ungemein körperlichen Herstellungsprozess der großformatigen Arbeiten, die Barbara Grosse im Jahr 2010 zusammen mit malerischen Werken ihrer Tochter Katharina im Augustinermuseum in Freiburg präsentiert.
„Ambulare“, betitelt die Künstlerin ihre mehrteiligen Arbeiten aus dem Jahr 2010, die sich durch expressive Strichführung und scharfe Schwarz-Weiß-Kontraste auszeichnen. Das Polystyrol-Material erlaubt es, beim Abdruck der großen Platten den sogenannten Plattenton vollständig zu vermeiden. Tiefschwarze Linien, Linienbündel, stehen auf makellos weißem Grund. Landschaftliche Assoziationen stellen sich ein, doch Natur wird hier nicht als imitierendes Abbild wiedergegeben, sondern als unaufhörlicher Prozess. Das Ineinanderfließen der Linienschwünge, ihr ganz eigener Rhythmus, verbildlicht die lebendigen Schaffensprinzipien der Natur, deren ständiges Werden und Vergehen hier in eine großartige graphische Form übersetzt erscheint. Nicht das erstarrte Momentbild des Lebens festzuhalten, sondern das Fließen und Strömen von Lebensenergien zu gestalten, zieht sich als roter Faden durch das gesamte Schaffen der Graphikerin Barbara Grosse. Ein Schaffen, das sich auszeichnet durch eine nie erlahmende Experimentierfreude, mit der sie immer wieder ungewöhnliche und innovative Techniken erforscht.